Rede zur Deportation am 23. Februar 1944 in Tschetschenien

Zuerst einmal möchte ich mich bedanken für die Einladung, dass ich heute auf diesem erstmalig in Vorarlberg stattfindenden Gedenktag der Tschetscheninnen und Tschetschenen als Auftakt und zur Begrüßung sprechen darf.

Ich möchte mich auch bedanken, dass in einem -man darf fast sagen- gemeinsamen Kraftakt der hier lebenden Tschetscheninnen und Tschetschenen nun doch dieser Gedenktag zustande gekommen ist.

Denn zelebriert und gedacht wird jedes Jahr. Nur eben bisher in Brüssel vor dem Menschengerichtshof oder -so wie gestern- in den Niederlanden vor dem internationalen Strafgerichtshof.
Tschetschenen kämpfen seit jeher um Gerechtigkeit. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als dass die Wunden, die ihnen immer wieder zugefügt wurden und werden, anerkannt werden und dass die Täter (sei es durch die Geschehnisse der Deportation oder auch der Gräueltaten der Kriege der jüngeren Vergangenheit- einer Verurteilung zugeführt werden. Und wenn das schon nicht, dass ihnen zumindest eine Anerkennung widerfährt, der ihrem Schmerz und ihrer auch seelischen Verwundung gerecht wird.

Es ist also ein besonderer Tag, den wir hier heute gemeinsam in Bregenz begehen.
Denn er ermöglicht uns allen, etwas mehr über die Tragödie, die am 23. Februar 1944 in Tschetschenien und Ingushetien stattgefunden hat, zu erfahren und auch festzustellen, dass dieser Tag auch etwas mit uns und unserer Geschichte zu tun hat.
Dass Tschetscheninnen und Tschetschenen, denen wir hier begegnen, nicht erst als Flüchtlinge zu uns gekommen sind und wir sie daher kennen, sondern bereits im 2. Weltkrieg gemeinsame Verflechtungen begonnen haben, die uns miteinander verbinden.

Am 23. Februar 1944 begann die Deportation der gesamten tschetschenischen und inguschischen Bevölkerung nach Zentralasien, die Stalin am 31. Jänner 1944 angeordnet hatte. Die Aktion wurde generalstabsmäßig geplant.

Nach den Vorbereitungsmaßnahmen wurden 459 486 zu deportierende Personen erfasst und um 2.00 morgens sämtliche Dörfer und Städte, die von Tschetschenen und Inguschen bewohnt wurden, umzingelt. Um 5.00 morgens wurde den Männern der Deportationsbefehl auf Versammlungen mitgeteilt und diese zugleich entwaffnet. Wer einen Fluchtversuch unternahm, wurde sofort ohne Warnung erschossen. Im Ort Chajbach wurde die Bevölkerung in eine Scheune getrieben und bei lebendigem Leib verbrannt. Insgesamt wurden zwischen dem 23. und 29. Februar über 470.000 Tschetschenen und Inguschen in Viehwagonen in die zentralasiatische Steppe transportiert, mehr als 1300 Menschen starben auf dem Transport.

Zwischen 1944 und 1953 starben über 73.000 Tschetschenen und Inguschen durch Krankheiten und Hunger, die meisten davon noch in den ersten Monaten. Damit kam fast ein Fünftel der tschetschenischen und inguschischen Bevölkerung durch die Folgen der stalinistischen Deportation ums Leben. Nicht nur das Ausmaß des Sterbens, sondern auch seine Systematik sprechen dafür, dieses Verbrechen als Genozid zu bezeichnen.

Am 29. Februar meldete der sowjetische Volkskommissar Lawrenti Berija den Vollzug der Aktion an Stalin. Außer einigen wenigen Gruppen, die sich rechtzeitig in die im Februar bitterkalten und verschneiten Kaukasischen Berge geflüchtet hatten, war damit die gesamte tschetschenische und inguschische Bevölkerung innerhalb weniger Tage aus ihrer Heimat deportiert worden.

Innerhalb der Sowjetunion wurde die Deportation geheim gehalten. Zurückkehrende Soldaten der Roten Armee fanden 1945 oft erst vor Ort ihre Dörfer geleert vor und mussten erst mühsam herausfinden was mit ihren Familien geschehen war. Schließlich hatten tausende Tschetschenen und Inguschen in den Reihen der Roten Armee für Stalin gegen das Deutsche Reich gekämpft und damit einen wesentlichen Beitrag zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus geleistet.

Für Stalin zählte dieser Beitrag der nordkaukasischen Bevölkerung zum Kampf gegen den Faschismus jedoch nicht. Als Begründung für die Deportation wurde angegeben, dass sich die Tschetschenen und Inguschen „antisowjetisch“ verhalten hätten.
Der Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen – und damit auch mit den Österreichern, die unter deutscher Flagge für das nationalsozialistische Deutsche Reich gekämpft hatten, verbindet das Schicksal der Tschetschenen und Inguschen mit der österreichischen Geschichte.

Erst der Angriffskrieg, den unsere Vorfahren gegen die Sowjetunion geführt hatte, machte den bewaffneten Widerstand einiger tschetschenischer und inguschischer Gruppen zur Kollaboration mit dem Faschismus und lieferte damit Stalin den Vorwand für die Deportation der gesamten Bevölkerung.

Die Geschichte der Deportation, der wir heute gedenken, hat also auch mit der österreichischen und deutschen Geschichte zu tun.

Erst 1957 unterzeichnete Chruschtschow den Erlass „Über die Wiedereingliederung der Tschetscheno-Inguschischen Bevölkerung“, nach dem die Tschetschenen wieder in ihre Heimat zurückkehren durften.

Zwischen 1957 und 1959 kehrten etwa 200 000 Überlebende nach Tschetschenien zurück und fanden ihre verlassenen Häuser besetzt vor. Nicht erstaunlich, dass diese Situation zu Konflikten mit den oft unfreiwilligen «Besatzern» führte, von denen viele aus anderen Gebieten der Sowjetunion selber nach Tschetschenien umgesiedelt waren.

Mit der Deportation legte Stalin eine soziale und ethnische Zeitbombe.

Ein in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny errichteter Gedenkort, der mit geschändeten Grabsteinen gestaltet worden war, wurde vom prorussischen tschetschenischen Regime vernichtet.

Auch jetzt soll wieder eines der größten Verbrechen begangen an der Bevölkerung Tschetscheniens verschwiegen werden.

Gedenken wir also heute gemeinsam mit den Nachkommen der Opfer der Deportation und geben den Verstorbenen wenigstens hier ein wenig ihrer verlorenen Würde zurück.

Eva Fahlbusch, Vindex – Schutz und Asyl

 

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